Markus und Matthäus sind sich einig:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) – so ruft Jesus am Kreuz.
Gott kommt nicht, um Jesus zu retten. Jesu Glaube an den liebenden Vater, den er ein Leben lang gefeiert hat, zerbricht. Jesus stirbt unter Geschrei und Tränen. Gott ist für ihn gestorben.
Lukas und Johannes stellen die Todesstunde ganz anders dar:
Jesus ruft mit lauter Stimme: „Vater in Deine Hände befehle ich meinen Geist.“ (Lk 23, 46)
Bei Johannes fallen Auferstehung und Kreuzigung sogar in eins, Jesus ist am Kreuz schon erhöht. Jesu letzte Worte am Kreuz: „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30)
Jesu Tod und sein Glaube in der Todesstunde sind in zwei verschiedenen, sich scheinbar ausschließenden Weisen, überliefert. Wir Christen können uns je nach Schicksal unseres Lebens mit beiden identifizieren.
Lovis Corinth gelingt es mit diesem Vexierbild (d.h. mehrdeutiges Bild), die verschiedenen biblischen Überlieferungen gleichzeitig darzustellen.
Wenn man genau hinsieht, kann man zwei verschiedene Gesichter entdecken:
Der eine Jesus im Bild schaut gequält nach unten, sein Blick ist starr und leer. Über seinen Augen lastet ein dunkler Schatten. Ein schwarzer Bart umrundet sein Gesicht.
Er ist einsam, zerschlagen, traurig, hilflos, verlassen.
Der andere Jesus schaut in die Höhe, seine Augen sind klar, sein Gesicht hell, der Mund und sein Kinn deutlich zu sehen, sein Haupt aufgerichtet in das Licht, zum Vater.
Er ist hoffnungsfroh, zuversichtlich, optimistisch, geliebt.
Jeder Mensch kann Jesus für sich entdecken, er kann auch beide Jesusbilder sehen,
aber niemals beide zugleich.