T-Shirt-Tage

(c) Roman Rolke
Datum:
Mo. 7. Okt. 2024
Von:
Roman Rolke

 

Der Text wurde von Julia Weber während eines berührenden Konzertes am 26.09.2024 im Aachener Dom vorgetragen. Eine von Regionalkantor Andreas Hoffmann eigens variierte Version des Liedes „Der Mond ist aufgegangen“ verwebt sich am Ende des Textes mit dem Gesang der Solistin Alessa Knur und dem Jungen Chor St. Johann aus Aachen Burtscheid, begleitet vom Pianisten Christoph Eisenburger.

Julia Weber beschreibt in Ihren Geschichten die Essenz der Begegnungen mit schwerstkranken Menschen im Hospiz oder auf einer Palliativstation. Der Titel zum Buch „T-Shirt-Tage“ greift die Situation dieser Menschen auf, die am Ende des Lebens nicht mehr Anzug und Krawatte oder Cocktail-Kleider tragen. Zuletzt werden die einfachen Dinge wichtig und zum Anziehen reichen T-Shirts, manchmal sind davon mehr im Schrank als noch Tage zu leben bleiben.

Unterhalb des lyrischen Textes von Julia Weber finden Sie einen Internet-Link zu einer Aufnahme von Text und Lied. Das Lied ist Teil eines Konzerts im lokalen Rahmenprogramm zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin vom 25.-28.09.24 in Aachen.

 

FRAU R., 72 JAHRE

 

an ihrem Bett sitze ich

sie schläft noch nicht

es ist so krankenhausflurindernachtstill

nur schlurfende Schritte in die Küche zum Wasserautomaten

über den Boden schleifende Bademäntel

Sauerstoffblubbern und tropfende Infusionen

im Krankenhaus steht manchmal die Zeit still

deshalb muss es viele Uhren geben

Uhren sind ja da um einem zu sagen

dass die Zeit vergangen ist

seit man das letzte Mal geguckt hat

das hat sie mir erzählt

am Abend vergeht die Zeit am langsamsten

und für sie ist schon fast seit zwei Wochen Abend

das heißt immer Zeit schlafen zu gehen

immer Zeit Gutenachtküsse zu verteilen

Zeit bis morgen zu sagen

jedes Mal hofft sie dass es keine Lüge ist

sie hat nie gelogen im Leben

sie will jetzt auch nicht mehr damit anfangen

sie ist so müde

 

sie ist auch so eine die die Nacht fürchtet

deshalb ist sie froh dass es Nachtschwestern gibt

und 24 Stundenrezeptionen in Hotels und Tankstellen

es ist ganz richtig Leute dafür zu bezahlen

mit ihr auf professionelle Weise wach zu sein

das tröstet sie so sehr dass nie alle gleichzeitig schlafen und sie

alleinlassen mit der Nacht

wenn es hell wird bin ich wieder da sage ich

denn ich bin keine Nachtschwester

nur eine die sagt dass es Zeit ist schlafen zu gehen

die bis morgen sagt

ich bin so müde

 

es ist ja auch kein Zufall dass es Gutenachtlieder gibt

hat sie auch mal gesagt und deshalb bleibe ich noch

deshalb summe ich durch die metallischen Bettgitter

jetzt wo sie noch wach ist aber schon weit weg zu sein scheint

der Mond ist aufgegangen die goldnen Sternlein prangen

am Himmel hell und klar

sie hört auf zu wimmern

sie guckt mich an mit großen Augen

sie hält sich fest an meinen Tönen

sie fällt nicht aus dem Gitter

sie ist wie zwischen den Zeilen

sie muss nichts sagen

 

wir summen damit wir nicht aus den Zeilen fallen

wir halten uns fest am Gitter

wir müssen nichts sagen

wir sind wie zwischen den Tönen

heute Nacht sagt sie nicht bis morgen

sie hat nie gelogen im Leben

sie will jetzt auch nicht mehr damit anfangen

 

Der Text „Frau R., 72 Jahre“ wird hier mit der Erlaubnis der Autorin, Dr. med. Julia Weber wiedergegeben

Link zu Text und Lied vom Auftritt am 26.09.24 im Aachener Dom

https://www.dropbox.com/scl/fi/yvl9op4pec9ekntx91b3g/T-Shirt-Tage_der-Mond-ist-aufgegangen_Junger-Chor-St.-Johann.mp3?rlkey=5tk90kfuosehrwyif8pv8g4ep&dl=0

Aufzeichnung von Text und Chormusik: Burkhard Wilbers-Makhmaltchi

Audio-Mastering: Dominik Rolke/Inzane