Der Text wurde von Julia Weber während eines berührenden Konzertes am 26.09.2024 im Aachener Dom vorgetragen. Eine von Regionalkantor Andreas Hoffmann eigens variierte Version des Liedes „Der Mond ist aufgegangen“ verwebt sich am Ende des Textes mit dem Gesang der Solistin Alessa Knur und dem Jungen Chor St. Johann aus Aachen Burtscheid, begleitet vom Pianisten Christoph Eisenburger.
Julia Weber beschreibt in Ihren Geschichten die Essenz der Begegnungen mit schwerstkranken Menschen im Hospiz oder auf einer Palliativstation. Der Titel zum Buch „T-Shirt-Tage“ greift die Situation dieser Menschen auf, die am Ende des Lebens nicht mehr Anzug und Krawatte oder Cocktail-Kleider tragen. Zuletzt werden die einfachen Dinge wichtig und zum Anziehen reichen T-Shirts, manchmal sind davon mehr im Schrank als noch Tage zu leben bleiben.
Unterhalb des lyrischen Textes von Julia Weber finden Sie einen Internet-Link zu einer Aufnahme von Text und Lied. Das Lied ist Teil eines Konzerts im lokalen Rahmenprogramm zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin vom 25.-28.09.24 in Aachen.
FRAU R., 72 JAHRE
an ihrem Bett sitze ich
sie schläft noch nicht
es ist so krankenhausflurindernachtstill
nur schlurfende Schritte in die Küche zum Wasserautomaten
über den Boden schleifende Bademäntel
Sauerstoffblubbern und tropfende Infusionen
im Krankenhaus steht manchmal die Zeit still
deshalb muss es viele Uhren geben
Uhren sind ja da um einem zu sagen
dass die Zeit vergangen ist
seit man das letzte Mal geguckt hat
das hat sie mir erzählt
am Abend vergeht die Zeit am langsamsten
und für sie ist schon fast seit zwei Wochen Abend
das heißt immer Zeit schlafen zu gehen
immer Zeit Gutenachtküsse zu verteilen
Zeit bis morgen zu sagen
jedes Mal hofft sie dass es keine Lüge ist
sie hat nie gelogen im Leben
sie will jetzt auch nicht mehr damit anfangen
sie ist so müde
sie ist auch so eine die die Nacht fürchtet
deshalb ist sie froh dass es Nachtschwestern gibt
und 24 Stundenrezeptionen in Hotels und Tankstellen
es ist ganz richtig Leute dafür zu bezahlen
mit ihr auf professionelle Weise wach zu sein
das tröstet sie so sehr dass nie alle gleichzeitig schlafen und sie
alleinlassen mit der Nacht
wenn es hell wird bin ich wieder da sage ich
denn ich bin keine Nachtschwester
nur eine die sagt dass es Zeit ist schlafen zu gehen
die bis morgen sagt
ich bin so müde
es ist ja auch kein Zufall dass es Gutenachtlieder gibt
hat sie auch mal gesagt und deshalb bleibe ich noch
deshalb summe ich durch die metallischen Bettgitter
jetzt wo sie noch wach ist aber schon weit weg zu sein scheint
der Mond ist aufgegangen die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar
sie hört auf zu wimmern
sie guckt mich an mit großen Augen
sie hält sich fest an meinen Tönen
sie fällt nicht aus dem Gitter
sie ist wie zwischen den Zeilen
sie muss nichts sagen
wir summen damit wir nicht aus den Zeilen fallen
wir halten uns fest am Gitter
wir müssen nichts sagen
wir sind wie zwischen den Tönen
heute Nacht sagt sie nicht bis morgen
sie hat nie gelogen im Leben
sie will jetzt auch nicht mehr damit anfangen
Der Text „Frau R., 72 Jahre“ wird hier mit der Erlaubnis der Autorin, Dr. med. Julia Weber wiedergegeben
Link zu Text und Lied vom Auftritt am 26.09.24 im Aachener Dom
Aufzeichnung von Text und Chormusik: Burkhard Wilbers-Makhmaltchi
Audio-Mastering: Dominik Rolke/Inzane